Symbolik ist die Wissenschaft von den Bildern und Symbolen und ihrem tieferen Sinn. Der größte Teil der Urweisheit der Menschheit liegt in solchen symbolischen Bildern vor. Sie sind zentraler Bestandteil der zahlreichen Mythen der Völker. Der Sinn der Mythen kann nur erschlossen werden, wenn wir die ihnen innewohnende Symbolik verstehen. Diese Symbolik besteht aus vielen einzelnen Bildern und Vorgängen. Nur auf diese Weise konnte die Spirituelle Welt mit den Menschen der Urzeit kommunizieren.
Die verwendeten Bilder und symbolischen Vorgänge der Mythen sind keineswegs menschliche Erfindungen, sondern entstammen der Spirituellen Welt. Sie verwendete Dinge, Wesen und Vorgänge, welche den Menschen vertraut waren und zu ihrer eigenen Welt gehörten, und machten sie zu Trägern eines tieferen, spirituellen Sinnes. Mythen und Symbole sind die Sprache der Spirituellen Welt auf den unteren Stufen. Nur mit hochentwickelten Menschen konnte die Höhere Welt mit Worten und Sprache verkehren. Auch solche Zeugnisse existieren, wenn auch in geringerem Umfang.
Nur mithilfe einer spirituell orientierten Symbolik kann der heutige Mensch die Mythen der Urzeit verstehen, die ihm ansonsten nur wie Märchen vorkämen. Aber auch für diejenigen, welche in der Lage sind, Blicke in die real existierende Seelenwelt zu werfen, ist die Kenntnis der Symbole unbedingt notwendig. Andernfalls hätte der Mensch eine reiche Bilderwelt vor Augen, deren Sinn er aber nicht versteht, was letzten Endes nur zu Enttäuschung und Abwendung führen würde. Kenntnis der Symbole ist deshalb auf dem Spirituellen Wege unverzichtbar. Wird in einem gegebenen Falle ein Symbol der Seelenwelt in seinem tieferen Sinn erkannt, führt dies zu einem beglückenden Erlebnis und der real erlebten Ausweitung des Bewußtseins.
Die Symbolik des Einweihungsweges – Die zwölf Prüfungen des Herakles
Alle nach der Einweihung Strebenden hatten ein großes, unsterbliches Vorbild: Herakles, der zwölf übermenschliche Prüfungen bestand, daraufhin die Erleuchtung erlangte, das unsichtbare Reich der Seelen betrat und als vergöttlichter Heros Unsterblichkeit und das Leben mit den Göttern errang. Seine Taten waren in aller Munde und vielfach abgebildet. Auf ihn wurden auch die Teilnehmer an den Mysterien hingewiesen. In Agrai galt er als erster dort Eingeweihter, wurde in dieser Funktion abgebildet und den Mysten als großes Vorbild vor Augen gestellt.
Ein Relief, das vor dem Einweihungstempel in Agrai stand, zeigte ihn bei Mysterienhandlungen. Man sah ihn bei einer Reinigungszeremonie, sodann mit verhülltem Haupte. Die Verhüllung des Hauptes bedeutet, daß der Myste sich von der äußeren sinnenhaften Wahrnehmung zurückzieht und ganz in sein Inneres versenkt. Herakles mit Myrtenzweigen in der Hand steht vor Demeter, die auf dem mystischen Korb sitzt, in dem die heiligen Symbole enthalten sind. Eine Schlange windet sich um den Korb, und Herakles streckt seine Rechte nach ihr aus, um sich mit ihr zu befreunden. Wie im ersten Band ausführlich gezeigt wird, symbolisiert die Schlange die Hellsichtigkeit des erweiterten, übersinnlichen Bewußtseins. Sie steht deshalb für das Ziel des gesamten Einweihungsprozesses.
Herakles begann seinen langen, mühevollen Weg zur Einweihung als noch unvollkommener Mensch. Er war keineswegs frei von Fehlern, zu denen vor allem sein ausgeprägter Jähzorn gehörte. Auch unterlag er zeitweise geistiger Verwirrung, die ihn zu Raserei und Verbrechen führte. So hat er fünf seiner eigenen Kinder im Feuer verbrannt. Die „Kinder“ bedeuten in diesem Fall seelische Kräfte, die durch Verblendung der Selbstzerstörung unterliegen. Das Feuer steht hier für den Zorn, der so übermächtig wird, daß er zerstörend auf einen Teilbereich der Seele wirkt. In den menschlichen Schwächen des Herakles konnten die Mysten deshalb ihre eigenen moralischen Mängel wiedererkennen. Das war tröstlich: Man begann den Weg zur Erleuchtung eben nicht als bereits Vollkommener.
Die zwölf großen Aufgaben oder Prüfungen, denen Herakles sich zu unterziehen hatte, weisen symbolisch sowohl auf die Stadien der Einweihung als auch auf die zu bewältigende moralische Läuterung hin. Nur wer selbst den Einweihungsweg geht, kann die jeweilige Symbolik verstehen und ihre innere Bedeutung ermessen. Die Stadien dieses Weges sollen hier kurz erläutert werden. Die Deutung erfordert ein umfassendes Verständnis vieler Sinnbilder, zu denen auch die kosmischen Symbole gehören.
Die Reihenfolge der Aufgaben und Prüfungen bezieht sich auf verschiedene Ebenen im Menschen. Bewältigt werden müssen Aufgaben auf der physischen, vitalen, emotionalen, geistigen und spirituellen Ebene. Alle diese verschiedenen Ebenen müssen einem Läuterungsprozeß unterworfen werden, und diese Prozesse werden durch die jeweilige Symbolik angedeutet. Eine zutreffende Schilderung folgt dem Wege aufwärts steigend durch die verschiedenen Ebenen und erhellt so die zugrunde liegende Systematik.
Der Stall des Augias – Reinigung
Die unterste Ebene im Menschen ist die physische oder materielle. Die Materie ist das letzte Glied in der Reihe der kosmischen Potenzen, die das Göttlich-Absolute aus sich herausgesetzt hat. So schildern es die neuplatonischen und gnostischen Denker der Antike. Die verschiedenen kosmischen Potenzen oder Ebenen werden als Emanationen, das heißt als Ausflüsse des Göttlichen aufgefaßt. Das Göttlich-Absolute, das alle Potenzen und Ebenen in sich enthält, sondert sie im Laufe eines langen Evolutionsprozesses von sich ab. Diese Absonderung kann bildlich auch als eine Art Ausscheidungsprozeß aufgefaßt werden. Die letzte Stufe dieses kosmischen Absonderungsprozesses, die Materie, ist vom Göttlichen Leben am weitesten entfernt, sie trägt schon den Charakter des Toten in sich. Die Moderne Wissenschaftliche Kosmopsychologie führt alle Prozesse der Absonderung, Aussonderung, Abtrennung, Ausscheidung und Ausstoßung auf diejenige kosmische Kraft zurück, die symbolisch als Saturn bezeichnet wird. Diese Kräfte Saturns wirken speziell im Bereich des Steinbock-Zeichens. Die saturnischen Kräfte der Aussonderung wirken auf allen Ebenen des Daseins. Im menschlichen Körper sind es die mineralisierten Knochen, die ein Produkt der Aussonderung aus dem Lebendigen darstellen. Aber auch der Dickdarm stößt die unbrauchbaren letzten Reste der Nahrung aus dem lebendigen Organismus ab. Hier nun beginnt die erste Aufgabe des Herakles!
In Elis regierte der unermeßlich reiche Fürst Augias. Sein geradezu sagenhafter Reichtum bestand in einem berühmten Schatzhaus und in zahlreichen riesigen Rinderherden. (Reichtum an materiellen Schätzen weist auf die Saturnkräfte hin, die auch die Metalle in der Erde bilden). Herakles wurde die Aufgabe gestellt, allein und an einem Tage die riesigen Stallungen des Augeias auszumisten. Damit wird auf die saturnischen Ausscheidungsprozesse hingewiesen.
Diese Symbolik ist in sich sehr vielfältig. Zunächst kann an die physische Reinigung und Reinheit gedacht werden, womit auch physische Gesundheit gemeint sein kann. Ferner soll die Seele sich aller unbrauchbaren, unnützen Gedanken und Gefühle entschlagen. Alles was zur innerlichen Erstarrung, zum seelischen Tode führt, muß auf dem Wege zur Einweihung ausgesondert werden; damit können z. B. auch belastende Erinnerungen, Depressionen und ähnliches gemeint sein. In einem erweiterten Sinne sind alle Einflüsse angesprochen, die den Menschen an die Tod und Erstarrung bewirkende Materie fesseln. Auch alles Niedere und Häßliche muß aus der Seele verbannt werden. Innerlich und äußerlich gereinigt kann der Suchende dann weiterschreiten.
Der Stier – Die Zügelung der Vitalkräfte
Der physisch-mineralische Leib des Menschen ist zu unterscheiden vom Lebensorganismus, den Lebenskräften, der Vitalität. Diese Sphäre wird durch den Stier symbolisiert. Die Menschen des Altertums waren äußerst genaue Beobachter. In dem bekannten Wiederkäuen der Rinder sahen sie einen Hinweis auf Ernährung und Stoffwechsel. Das wiederkäuende Rind ist ganz diesen vitalen Prozessen hingegeben. Auch Menschen – und es sind nicht wenige – können ganz in den Lebensprozessen aufgehen. Heitere Zufriedenheit erfüllt sie beim reichlichen Essen und Trinken – braucht der Mensch denn mehr, scheinen sie zu sagen! In der weiter gefaßten Symbolik sind hier alle Vorgänge gemeint, die den Menschen in der Lebenssphäre festhalten, die naive Lebensfreude in allen ihren Schattierungen, das Behagen, die satte Zufriedenheit, das passive Sich-Ausliefern an die Natur und ihre Prozesse. Dadurch verharren die Seelen in einer bloß vegetativen Sphäre. Keine Sehnsucht nach Höherem erwacht in ihnen, kein Wunsch nach Befreiung und Erlösung. Ihr Bewußtsein bleibt dumpf und entwickelt keine Interessen, kein Streben, keine Helligkeit. Diese vitalen und vegetativen Beharrungskräfte müssen auf der Suche nach dem Göttlichen in der Seele deshalb überwunden werden.
Mit dem König Minos auf Kreta waren das Labyrinth und ein Stier verbunden. Herakles war es aufgegeben, den Stier, der nach Mykene gehörte, wieder dorthin zurückzubringen. Im Kampf mit dem Stier maß er sich mit dessen Kräften. Auf seinen Schultern trug er ihn zum Meer, das er auf dem Rücken des Stieres dann überquerte. Der Stier blieb also am Leben – die Lebenskräfte können und sollen nicht ausgerottet werden, aber sie müssen in Grenzen gehalten werden. Diese Symbolik verweist uns in wörtlichem Sinne auf die kosmischen Kräfte des Stier-Zeichens, das die Lebenssphäre repräsentiert.
Der Eber – Die Zügelung der aggressiven Kräfte
Auf die physische und vitale Ebene folgt die psychische Ebene, die Seele mit ihren mannigfachen Trieben und Emotionen. Wie oft werden Menschen von heftigen Gefühlsregungen übermannt, wie oft geraten sie außer sich, sei es vor Freude, vor Furcht, vor Wut! Einer fast unübersehbaren Zahl von Trieben und Emotionen sieht sich der Mensch gegenüber, die er kaum zu bändigen weiß. Kann er solche Gefühle doch nicht abstrakt bekämpfen, muß er doch auf die Gelegenheiten warten, bei denen ein Trieb oder eine Emotion die Herrschaft über ihn gewinnt! Dann aber ist es meist zu spät! Heftige Triebregungen und Gefühlsausbrüche stören aber die Ruhe und das Gleichmaß der Seele, die zu einem Aufstieg zu den geistigen Höhen unbedingt erforderlich sind. Der spirituelle Weg setzt unbedingte Selbstbeherrschung auch in schwierigen Situationen voraus. Niemals darf der Mensch seine Fassung verlieren, dann nämlich hätte er selbst verloren! Zwei der Prüfungen des Herakles beziehen sich auf diese triebhafte und emotionale Ebene.
Der Fluß Erymanthos entsprang dem gleichnamigen Waldgebirge und durchzog dann eine große fruchtbare Ebene. Dort trieb ein wilder Eber sein Unwesen und verwüstete die Saaten. Ihm sollte Herakles Einhalt gebieten. Bis zur Quelle des Erymanthos verfolgte er den Eber, fing ihn dann mit der Schlinge und brachte ihn auf seinem Rücken nach Mykene. - Ein wilder Eber stürzt sich blindlings und mit Wucht auf einen ungebetenen Gast oder einen Angreifer und stößt ihn mit seinen Hauern nieder. Jagd auf einen Eber war im Altertum keine ungefährliche Sache, was öfters in der mythologischen Literatur beschrieben wurde. So wurde auch Adonis, der Liebling der Aphrodite, von einem Eber verfolgt, niedergestoßen und von seinen Hauern durchbohrt. Blinde Wut, ungezügelte Aggression, bedenkenlose Stoßkraft werden hier durch den Eber symbolisiert. Im Kosmos sind solche aggressiven Triebe dem Mars und dem ihm zugehörigen Widder-Zeichen zugeordnet. Die Zügelung solcher aggressiven Triebe im weitesten Umfang war eine Aufgabe, die speziell auf Herakles zugeschnitten war, explodierte sein Jähzorn doch immer wieder und führte zu schlimmen Folgen. So hatte er Linos, seinen Lehrer in der Musik, aus jäh aufwallendem Zorn erschlagen, als dieser ihm gegenüber einen Tadel aussprach.
Der Löwe – Die Zügelung des Stolzes
Herakles war ein starker und mächtiger Held. Solche Eigenschaften verführen Menschen oft zu einem übermäßigen Selbstbewußtsein, zu Selbstüberschätzung, Selbstüberhebung, zu Stolz und Anmaßung, zu unumschränktem Herrschaftsstreben und Machtwahn. Alle diese Eigenschaften werden durch den Löwen symbolisiert, der immer als königlicher Herrscher über alle Tiere beschrieben wird und dessen Stimme sie im weiten Umkreis erbeben läßt. In den Schluchten von Nemea hauste ein ungeheuer starker und gefährlicher Löwe, der die ganze Umgebung unsicher machte. Herakles war es aufgegeben, ihn unschädlich zu machen. Mit seinen Pfeilen konnte er den Löwen nicht töten, da dieser unverwundbar war. Schließlich erwürgte Herakles ihn mit bloßen Händen. Daraufhin legte er sich das Fell des Löwen um, was nun ihn selbst für immer unverwundbar machte.
Stolz und Selbstüberhebung vermitteln nur den Schein von Stärke, doch in Wahrheit verleihen sie dem Menschen keine Kraft. Die Fähigkeit zum Aufstieg in die geistigen Höhen schenkt nur die Demut. Dem Stolzen und Überheblichen verschließen sich in den Spirituellen Welten alle Tore. Alle Wesen meiden ihn, niemand nähert sich ihm, seine eigene Distanz und Kälte schlägt ihm aus der geistigen Umwelt entgegen. Für die Götter ist er ein lächerlicher Wicht, und sei es ein Caesar, ein Napoleon. Von Moses wird in der Bibel gesagt, daß er „der demütigste aller Menschen“ war. Nur die Einsicht in die eigene Begrenztheit stimmt die Spirituellen Wesen zu gütigem Entgegenkommen, ohne das es in den höheren Welten keinen Fortschritt gibt. Deshalb ist die Selbsterkenntnis das unentbehrliche Fundament aller Anstrengungen und Fortschritte auf dem spirituellen Gebiet. Demut macht den Menschen „unverwundbar“ gegenüber allen Einflüsterungen der Eigenliebe. Ohne Opferung des Ego und seiner maßlosen Ansprüche kann es keine allgemeine Menschenliebe geben, die uns ins Zentrum der universalen göttlichen Liebe führt. – Das Symbol des Löwen weist unmittelbar auf das kosmische Löwe-Zeichen hin, das unter anderem das menschliche Selbst und alle damit in Zusammenhang stehenden Triebe repräsentiert.
Der Hirsch – Innere Beweglichkeit
Auch die Geschichte der Hirschkuh verweist auf bestimmte Tugenden und Schwächen. Sie lebte in den Wäldern Arkadiens und war der Göttin Artemis heilig, welche als Mondgöttin die Beschützerin aller Tiere ist. Sie trug ein goldenes Geweih und besaß eherne Läufe, die sie für alle anderen Wesen uneinholbar machten. Herakles wurde aufgetragen, sie zu fangen. Ein ganzes Jahr lang verfolgte er die Hirschkuh über Wiesen, durch Wälder, Täler und Schluchten, über Berge. Als das Tier ermattet an den Ausgangspunkt der Jagd zurückkehrte, konnte Herakles es fangen. Als er die Hirschkuh töten wollte, traten ihm Artemis und Apollon entgegen und verboten es ihm. Also brachte Herakles sie lebend seinem Auftraggeber König Eurystheus nach Mykene.
Im Symbol der Hirschkuh ist Beweglichkeit angedeutet. Die Seele des nach Erleuchtung Strebenden muß innerlich beweglich bleiben. Sie darf nicht auf der Stelle verharren, darf sich Neuem nicht verschließen, denn dies würde für sie geistigen Stillstand bedeuten. Sie darf sich nicht auf die gesellschaftlich vorgegebenen Konventionen und Traditionen verlassen, denn dann wäre sie selbst verlassen. Die Seele muß sich neuen Horizonten öffnen. Nur so kann sie das ungeheure Wagnis der Bewußtseinserweiterung unternehmen, die alle gewohnten Vorstellungen und Einstellungen hinwegfegt. Hiermit werden wir an die Tragik des Sokrates und der Athener erinnert, die sich seinen neuen Gedanken verschlossen und sich so selbst einmauerten. Gefordert werden aber auch Ausdauer und Beharrlichkeit, Konzentration auf ein einziges Ziel, das zu verfolgen Jahre in Anspruch nehmen kann. Solche Beharrlichkeit ist in der Tat eine unumgängliche Eigenschaft auf der Suche nach Erleuchtung, die ein ganzes Leben dauern kann.
Beweglichkeit, Fortbewegung und Schnelligkeit sind Eigenschaften, die ihre kosmische Quelle im vom beweglichen Merkur beherrschten Zwillinge-Zeichen haben. Dort finden sich aber auch die damit zusammenhängenden negativen Eigenschaften, die Übereilung, die Unbeständigkeit, der Mangel an Beharrlichkeit, die es auf dem Wege zur Bewußtseinserweiterung zu überwinden gilt. Das goldene Geweih der Hirschkuh weist auf Lichtkräfte hin, die ebenfalls zum Zwillinge-Zeichen gehören. Im Monat Juni herrscht die größte Lichtfülle im Jahreslauf. Auch tritt der Lichtgott Apollon in dieser Begebenheit auf.
Die Vögel – Die Zügelung des intellektuellen Scharfsinns
Neben den Trieben und Emotionen, die allesamt psychischer Natur sind, müssen aber auch die intellektuellen und geistigen Fähigkeiten beherrscht und harmonisiert werden. Diese gehören der Bewußtseinssphäre an. Wird das Bewußtsein von irrigen oder falschen Vorstellungen geleitet, kann es dem Wahn und der Verblendung verfallen. Auch derjenige, dem sich das Tor zur jenseitigen Welt geöffnet hat, ist davor nicht gefeit. In der physischen Welt wird falsches Denken durch die unüberwindliche Macht der Tatsachen meistens zurechtgerückt und korrigiert. In der spirituellen Welt ist eine solche Korrektur weitaus schwieriger: Die Seele kann sich auf dem rechten Wege wähnen, während sie bereits dem Abgrund zuschreitet, wo sie für immer verloren gehen kann. Was jede Seele, die den spirituellen Weg beschreitet, dringend braucht, ist ein klares Urteilsvermögen, das auf Lebenserfahrung und gesundem Menschenverstand beruht. Ein Übermaß an Scharfsinn und scheinbarer Logik, die das Herz mit tausend Zweifeln erfüllen, kann jedoch der Erfassung der Lebensrealität durchaus hinderlich sein.
Die Wälder im Tal von Stymphalos wurden von Vögeln eigener Art bewohnt. Sie besaßen eiserne Schwingen mit Federn, die scharf wie Pfeile waren. Sie griffen auch Menschen an, und wenn eine der Federn ein lebendes Wesen traf, so wirkte sie wie ein tödlicher Pfeil. Herakles wurde aufgetragen, diese wilden Vögel zu vertreiben.
Die hervorstechendste Fähigkeit der Vögel besteht in ihrer Scharfsichtigkeit, die jede kleinste Bewegung auch auf große Entfernung wahrzunehmen in der Lage ist. Diese Schärfe und Präzision besitzt auch ihr Schnabel, mit dem sie kleinste Nahrungsteile aufpicken. Außergewöhnlich ist auch ihre Treffsicherheit, mit der sie Insekten in der Luft einfangen. Dieser Präzision und Scharfsichtigkeit entspricht im Menschen der intellektuelle Scharfsinn. Ein überscharfer analytischer Intellekt vermag zwar die Dinge und Vorgänge in kleinste Einzelheiten zu zerlegen, kann sie aber nicht zu größeren Einheiten verbinden und verfehlt so ihren Sinn. Ein „messerscharfer Verstand“ zerlegt die Tatsachen in ihre kleinsten Bestandteile, wird dadurch aber selbst kleinlich und pedantisch. Überscharfe, „spitzfindige“ Analyse verhindert den Menschen daran, die Dinge in ihrem weisheitsvollen Zusammenhang zu sehen. Weisheit aber ist schon von Anfang an für den schwierigen spirituellen Weg unentbehrlich. Die Überschärfe des reinen Intellekts muß deshalb gemildert werden.
Der „Scharfblick“ der Vögel deutet hin auf die kosmischen Kräfte des vom Merkur beherrschten Jungfrau-Zeichens, das dem Menschen die visuelle Wahrnehmung, den „scharfen Blick“ für die Einzelheiten, Scharfsinn und Präzision des Intellekts verleiht.
Das Pferd – Die Zügelung wahnhafter Verblendung
Auf der geistigen Ebene haben wir auch die Bedeutung der Pferde des thrakischen Königs Diomedes zu suchen, die Herakles zu bändigen hatte. Das Pferd ist das weltweit verbreitete mythische Symbol für die Denkkraft, die Vernunft, die Weisheit, die höhere Erkenntnis im Gegensatz zur bloßen Wahrnehmung und dem an die Sinne gebundenen, kombinierenden Verstand. Am reinsten tritt diese Symbolik zutage bei dem geflügelten Pferd Pegasos, das in der griechischen Mythologie eine Rolle spielt. Es ist ein Symbol für die über die irdische Ebene sinnenhafter Wahrnehmung sich erhebende Höhere Vernunft, die den „Flug zum Himmel“ unternimmt, das heißt die kosmischen und göttlichen Ideen in ihr Denken aufnimmt. Ihre eigentliche Ausprägung findet sie in einer Philosophie, welche zu den höchsten Ideen der Schöpfung aufsteigt, wie sie beispielsweise bei Platon in erhebender Weise zu finden ist.
Mannigfaltig sind die Beispiele für diese Symbolik in den Mythen vieler Völker. Mithilfe des „Hölzernen Pferdes“, ersonnen von Odysseus, dem eigentlichen „Denker“ im griechischen Heere, wird Troja eingenommen. Das besagt, daß sich das bei den Griechen bereits entwickelte Denken der alten mythischen Weltsicht in Kleinasien überlegen gezeigt hat. Das Pferd ist das der Athena Hippia heilige Tier, der göttlichen Macht also, der Denken und Wissenschaft untersteht, und die gerade diejenigen Helden wie Odysseus unterstützt, die sich durch ein entwickeltes Denken auszeichnen. Bei den im östlichen Balkan wohnenden Thrakern spielte eine Reitergottheit eine herausragende Rolle. Um im künftigen Kampf gegen die Macht des Materialismus, den finsteren Gott Seth, siegreich zu sein, will der ägyptische Horus sich des Pferdes, also der höheren Denkkraft, bedienen. Die Inder erwarten nach dem Ende des Kali-Yuga, des Zeitalters materialistischer Verfinsterung, die Inkarnation des Kalki auf seinem weißen Pferde. Dieses steht für das höhere Denken, das von allen materialistischen Beimengungen gereinigt ist. Kalki wird mit seiner Hilfe das Neue Zeitalter des Geistes, des spirituellen Denkens begründen. Identisch mit ihm ist der Reiter auf dem weißen Pferde im letzten Buch der Bibel. Als „König“ ist er ein überragender Genius auf dem Gebiet des spirituellen Denkens und führt eine große Schar von Weisen zum entscheidenden Kampf um die höhere Wahrheit und ihre Geltung in der Welt (Offenbarung 19,11). Ein entsprechendes Bild prägten die Griechen in der Gestalt des Perseus, der auf dem Flügelroß Pegasus reitend das Meeresungeheuer besiegt, das die an den Felsen (die Materie) gekettete Andromeda (die Menscheitsseele) verschlingen will.
Ein Denken, das sich von allen sinnenhaften Begrenzungen frei macht und sich in die Höhen des Geistes erhebt, unterliegt aber gewissen Gefahren. Es besitzt keine Stütze und Korrekturmöglichkeit mehr in den unumstößlichen Tatsachen der irdischen Realität. Es kann den Halt verlieren und sich leicht in reine Spekulationen flüchten, wofür die Geschichte der Philosophie genügend viele Beispiele bietet. Spekulatives Denken kann leicht in Wahngebilden und in regelrechtem Wahnsinn enden. Ein Denken, das in geistige Höhen führt und sich im Besitze der höheren Wahrheit glaubt, ist auch für geistigen Hochmut nicht unempfänglich. Diese Gefahren sind angesprochen in der Geschichte des Bellerophon. Seine Schutzgöttin Athene hatte ihm einen goldenen Zaum geschenkt, mit dessen Hilfe er das Flügelroß Pegasos zähmen konnte. Er verfiel jedoch dem Wahne und beschloß, mit dessen Hilfe in den Himmel zu Zeus aufzusteigen. Da er die Gesetze des höheren Denkens aber noch nicht vollständig verinnerlicht hatte – so muß man die Erzählung deuten -, warf ihn das Pferd in der Höhe ab, und er landete zerschmettert auf der Erde.
Diese Gefahren der noch nicht vollständig entwickelten Denkkraft sind nun auch mit den Rossen des Diomedes gemeint, die Herakles zu zähmen hatte. Sie waren so wild, daß sie mit eisernen Ketten an eherne Krippen gebunden werden mußten. Das Denken des Diomedes verlief also nicht in geordneten Bahnen, das will uns die Erzählung in diesem Bilde sagen. Sein Denken war ungezügelt, die entfesselten Gedanken gingen mit ihm durch, sie ließen sich nicht von Tatsachen korrigieren. Sein Denken hatte keinen Halt, keinen Mittelpunkt, auf den die Gedanken bezogen werden konnten. Indem Herakles die Rosse zähmte, zwang er sein eigenes Denken in geregelte Bahnen, verpflichtete es der Tatsachentreue, dem Wahrheitssinn, der Logik, spannte es in das eiserne Joch der Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit, die unerbittlichen Gesetzen folgen. Diomedes hingegen wurde von seinen eigenen Rossen verschlungen, ein Bild für das unrettbare Verfallensein an Wahngebilde, die keinen Ausweg mehr gestatten.
Die Denkkraft ist am Himmel symbolisch im Zeichen des Schützen zu sehen, dargestellt durch einen Kentauren mit Pferdeleib, der mit seinem Bogen einen Pfeil, das heißt einen Gedanken in die geistigen Höhen schießt. Das Schütze-Zeichen wird von Jupiter beherrscht, dem Repräsentanten der Weisheit und der Höheren Erkenntnis. Die Kentauren waren aufgrund ihrer naturhaften Weisheit, die sie besaßen, in der Urzeit die Lehrer der Heroen.
Omphale – Die seelisch-geistige Vereinigung des Männlichen und Weiblichen
Herakles hatte nun seine physischen, vitalen, psychischen und mentalen Kräfte gereinigt und harmonisiert. Damit hatte er die Grundlagen für seinen weiteren Aufstieg gelegt. Bevor er sich in die geistigen Welten erheben konnte, mußte er noch eine letzte und höchste Synthese vollbringen. Der Mensch, so wie er auf Erden lebt, ist keine Einheit, er ist schon physisch in zwei ganz verschiedene Existenzformen aufgespalten, in eine männliche und eine weibliche Form. Diese Spaltung setzt sich auf der vitalen, psychischen und geistigen Ebene fort. Die Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit des Männlichen und Weiblichen sind so stark, daß sie zum „Krieg der Geschlechter“ geführt haben, die sich mit Unverständnis und Kälte gegenüberstehen. In der Zukunft, so sieht es der Spiritualist voraus, wird es immer mehr zu Fremdheit und Ablehnung zwischen den Geschlechtern kommen. Würden sich diese Gegensätze für immer verfestigen, würde allein schon diese Tatsache das Scheitern der menschlichen Evolution bedeuten.
Es war der Philosoph Platon, der zum erstenmal ausgesprochen hat, daß die aus der göttlichen Schöpfung hervorgegangene Urform des Menschen eine das männliche und weibliche Prinzip in sich vereinigende gewesen ist. Dabei ist nicht an eine physische, sondern an eine ätherische Form zu denken. Diese doppeltgeschlechtliche, androgyne Urform hat sich erst im Laufe der irdischen Evolution in eine physische männliche und weibliche Gestalt aufgespalten. Bereits der kleinasiatische Mythos von dem doppeltgeschlechtlichen Wesen Agdistis, das große spirituelle und magische Kräfte besaß, schildert die von den Göttern veranlaßte Aufspaltung in die beiden Geschlechter (Kerenyi, „Die Mythologie der Griechen“). Dieser Mythos findet sein Gegenstück in der biblischen Erzählung, bei der Eva, das erste weibliche Wesen, von der übergeschlechtlichen Urform Adam planvoll abgetrennt wird. Diese „paradiesische“ Urform des ganzheitlichen Menschen lebte in unmittelbarem Kontakt mit der göttlichen, spirituellen Welt. Die Botschaft der Mythen lautet deshalb: Nur eine Existenzform, in der das männliche und weibliche Prinzip vereint sind, kann das spirituelle Leben in sich verwirklichen und das ursprüngliche göttliche Leben erringen.
In der Geschichte des Herakles haben wir es nun mit seiner Begegnung mit dem weiblichen Prinzip zu tun. Hierbei werden wir mit den Amazonen und mit der Königin Omphale bekannt gemacht. Eurystheus beauftragte den Helden, seiner Tochter Admete den Gürtel der Amazonenkönigin Hippolyte zu beschaffen. Zunächst obliegt es uns, die irrigen Vorstellungen von den „Amazonen“ zu berichtigen, deren wahrer Charakter durch die griechischen Mythen verfälscht worden ist. Daß die Amazonen auf Pferden reiten und mit Schwertern und Lanzen bewaffnet gegen die Heere der Männer kämpfen, ist in das Gebiet reiner Fabel zu verweisen. Das Symbol des Pferdes verweist auch hier auf die geistige Ebene der Urweisheit wie bei den Kentauren. Die Amazonen bildeten reine Frauengemeinschaften auf spiritueller Grundlage, zu denen Männer keinen Zutritt hatten. Ein grundlegender Unterschied zu den oben behandelten Mänaden bestand nicht. Aus dem alten Ägypten sind die Kollegien der „Gottesjungfrauen“ bekannt, die durch die Uräusschlange an der Stirn als hellsichtig gekennzeichnet waren und im späteren „Gottesstaat des Amun“ eine wichtige Rolle spielten. Sie ergänzten ihre Gemeinschaft durch Adoption. Den Frauen, welche die Erleuchtung suchten, war bewußt, daß Männern weitgehend das Verständnis für ihre Form des spirituellen Lebens fehlte; dementsprechend waren sie grundsätzlich ausgeschlossen, was dann von männlicher Seite als Gegensatz und „Feindschaft“ interpretiert wurde. Im christlichen Mittelalter waren es die Gemeinschaften der Beginen, die in eigenen, abgesonderten Siedlungen das spirituelle Leben suchten; auch sie wurden von der von Männern beherrschten Kirche als Fremdkörper angesehen und zeitweise unterdrückt.
Das Gebiet der „Amazonen“ befand sich in Kleinasien, an den Rändern des Schwarzen Meeres, wo im Altertum intensives spirituelles Leben gepflegt wurde und auch die Argonauten nach dem Goldenen Vlies, das heißt nach Erleuchtung suchten. Herakles begibt sich hiermit in eine Sphäre weiblich geprägter Spiritualität. Er erwirbt sich Fähigkeiten des Fühlens und Erlebens, die ihm als Mann verschlossen sind.
Nach einer anderen Version wird er von Omphale mit dieser Expedition beauftragt. Sie war die erste Königin des kleinasiatischen Landes Lydien und die Stammutter der späteren Könige. Das Zusammenleben des Herakles mit Omphale mußte durch die Erzählung begründet werden: Hermes, wie Merkur der Gott des Handels, verkaufte Herakles auf dem Sklavenmarkt an die Königin. Der Heros, Urbild männlichen Heldentums, geriet dadurch ganz unter weibliche Herrschaft, das heißt er war nun gezwungen, sich die speziellen weiblichen Seelenkräfte anzueignen. Im Palast der Omphale gibt sich Herakles nun dem Wohlleben und der Sinnlichkeit hin. Das Löwenfell und die Keule hat er abgelegt, sie gehen nun auf Omphale über. Er selbst gefällt sich in Frauenkleidern, schlägt die Handpauke und tanzt dazu. Er zupft Wolle und spinnt sie am Spinnrocken. Er spielt den gehorsamen Diener seiner Herrin wie eine Magd. Kurz und gut: Herakles hat sich in ein weibliches Wesen verwandelt. Diese Szenen wurden auf Abbildungen und in Theaterstücken vielfach nachgeahmt und gehörten zu den populärsten Geschichten um den Helden. Noch in der viel späteren europäischen Barockmalerei nahmen die Künstler dankbar dieses Sujet auf. Diese Geschichte stellt die Integration des Weiblichen in der männlichen Seele, bzw. die Aufnahme des männlichen Prinzips in die weibliche Seele dar. Mit dem Tausch der Kleidung wird ein regelrechter Austausch der beiden Prinzipien ausgesprochen. Mit dieser Integration gegensätzlicher Prinzipien hatte Herakles nun die ursprüngliche Vollmenschlichkeit wieder hergestellt, er war reif geworden für das spirituelle, göttliche Leben.
Das weibliche Empfinden und Fühlen, Liebe und Schönheit sind im Kosmos im von Venus-Aphrodite beherrschten Waage-Zeichen zu finden.
Die Goldenen Äpfel am Baum der Hesperiden – Erleuchtung
Nun endlich konnte er die Früchte aller seiner Bemühungen ernten. Sie werden symbolisiert durch die Goldenen Äpfel an jenem Baume, der von den Hesperiden, weiblichen Genien, bewacht wird. Golden sind sie, weil sie erleuchtete Weisheit, das spirituelle Licht verkörpern. Ein goldener Zweig mit Früchten war ein gebräuchliches Symbol für die Erleuchtung. Äneas betritt mit einem solchen Zweig die Seelenwelt. Auch der biblische Baum des Paradieses mit seinen Äpfeln gehört hierher. Die Schlange verleitet Eva, von den Äpfeln zu essen, dadurch würden „ihre Augen aufgetan“ und sie werde Gott gleich
(1. Mose 3). Auch um den Baum der Hesperiden windet sich eine Schlange, und auch diese Äpfel verheißen dem Menschen die Heilung von der Blindheit der bloß sinnenhaften Wahrnehmung, die Öffnung seiner Seelenaugen, das Erblicken des spirituellen Lichtes, den Aufstieg zu einem göttlichen Leben wie in der paradiesischen Urzeit.
Die Hesperiden leiten sich von dem griechischen Wort für Abend her. Sie wohnen also im Westen, wo die Sonne des Abends in der „Unterwelt“ versinkt. Die Goldenen Äpfel sind also nicht in der physischen Welt, sondern in der Seelenwelt zu finden. Wie die Sonne selbst, so überquert Herakles im goldenen Sonnenbecher den Okeanos. Mit dem Okeanos meint der Mythos nicht das Meer, sondern den Weltäther, der die Erde umgibt und als kosmisches Lebenselement (Pneuma) das ganze Weltall erfüllt. Erst wenn man die Ätherregion durchquert hat, gelang man auf die höhere Ebene der Weltseele. Diese Reise treten auch die Verstorbenen an, die vom Fährmann Charon in die Seelenwelt übergesetzt werden. Der Aufstieg in die kosmischen Weiten der Seelenwelt wird durch die Gestalt des Atlas angedeutet, den Herakles auf dieser Reise trifft und der ihm den Weg zum Baum der Hesperiden weist. Der Titan Atlas trägt die Erde auf seinen Schultern. Dieser Umstand deutet auf die Erdachse hin, die wiederum auf den Himmelspol weist. Die Erdachse symbolisiert den Weg in die höheren Welten des Geistes, den Aufstieg in den Kosmos zur Region des Himmelsherrschers, der im Glauben der alten Völker am Himmelspol thront. Die Schlange am Baum der Hesperiden verwehrt es dem geläuterten Helden nicht, drei Goldene Äpfel zu pflücken. Eurystheus will und kann diese nicht annehmen, und auf Geheiß der Athene bringt Herakles sie zurück, denn sie sind niemandes Eigentum.
Indem er die Goldenen Äpfel pflückte, hat Herakles sich endlich nach langen Mühen die Erleuchtung erobert. Als Erleuchteter kann er nun unbegrenzt weite Reisen in die Seelenwelt, in die kosmischen Regionen des Geistes unternehmen. Er ist frei geworden von den Begrenzungen des materiellen Daseins. Er wird eins mit dem geistigen Kosmos, in dem es für ihn keine Begrenzungen mehr gibt.
Der Baum und die Früchte deuten auf die Wachstumskräfte der Natur hin, deren kosmischer Ursprung in dem vom Mond beherrschten Krebs-Zeichen zu suchen ist. Auch das erleuchtete, übersinnliche Bewußtsein, das ein Bilderbewußtsein ist, dem auch die Mythen entstammen, gehört zur Mondenregion und dem Krebs-Zeichen. Im ersten Band wird ausführlich dargelegt, warum die Schlange zum Symbol dieses mondenhaften Bilderbewußtseins geworden ist.
Die Schlange am Hesperidenbaum macht einen Rückblick auf eine andere Schlange in der Geschichte des Herakles nötig. Damit ist die bekannte Hydra gemeint, die Herakles bereits am Beginn seines langen Weges töten mußte. In welchem Verhältnis stehen diese beiden Schlangen, und wie unterscheiden sie sich? Auch die Hydra symbolisiert das übersinnliche, hellsichtige Bilderbewußtsein. Aber es ist ein naturhaftes, ererbtes, nicht durch geistige und moralische Anstrengungen erworbenes Bewußtsein, wie es in der Urzeit alle Menschen besaßen. In ungeläuterten, von Trieben und Emotionen beherrschten Seelen kann ein solches Bewußtsein verheerende Wirkungen ausüben. Eine Seele ohne Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung kann auf solchen Wegen in geistige und moralische Abgründe stürzen, dem Aberglauben, dem Wahn oder gar der Schwarzen Magie verfallen. Ohne die beschriebene Läuterung aller Seelenkräfte kann das naturhafte übersinnliche Bewußtsein ins Verderben führen, den Menschen innerlich „vergiften“. Deshalb mußte Herakles es zurückdrängen, die Hydra „töten“. Acht ihrer neun Köpfe waren sterblich, ihr neunter Kopf jedoch unsterblich. Das bedeutet, daß das übersinnliche Bewußtsein nicht vollständig ausgerottet werden kann und darf; die Anlage zu einem solchen Bewußtsein muß erhalten bleiben, sonst könnte die Schlange am Hesperidenbaum ihre Aufgabe nicht erfüllen.
Auch die naturhafte Form der Schlange, des übersinnlichen Bilderbewußtseins, gehört in die kosmische Region des vom Monde beherrschten Krebs-Zeichens, was dadurch bestätigt wird, daß ein Seekrebs der Hydra im Kampf gegen Herakles zu Hilfe kam.
Die Höhle und ihr Wächter – Eintritt in die Seelenwelt
Die beiden letzten Aufgaben und Taten des Herakles stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Erleuchtung und dem Weg in die Seelenwelt; die drei Vorgänge bilden deshalb eine Einheit. Herakles mußte noch zweimal in die Seelenwelt eindringen. Wieder macht er eine weite Reise über die kosmische Region des Äthers zur weit im Okeanos liegenden Insel Erytheia. Diese Insel liegt ihrem Namen entsprechend im Abendrot der untergehenden Sonne, also am Eingang zur „Unterwelt“. Auf dieser Insel haust in einer dunklen, schwer zugänglichen Höhle Geryoneus, ein riesiges, geflügeltes Wesen. Seine drei Leiber und drei Köpfe weisen wie bei Hekate auf die drei Stationen des Mondes. Auch sein Hund Orthros entspricht dem Hund der Hekate, die ebenso wie er eine Höhle bewohnt, Symbol für den Himmelsraum bzw. die Seelenwelt. Geryoneus kann daher als ein männliches Pendant zu Hekate angesehen werden. Wie sie ist er der Wächter am Tor zur Seelenwelt, man könnte auch sagen der „Hüter der Schwelle“, die in die spirituelle Welt führt. Auch sein Hund füllt diese Wächterfunktion aus. Herakles dringt trotz aller Schrecken in seine Höhle ein, das heißt er betritt die Spirituelle Welt. Im Kampf muß er seine Kräfte mit denen des Wächters messen. Er entführt die Herden des Geryoneus, die eigentlich dem Sonnengott Helios gehören. Die „Herden“ der Götter sind hier wie in anderen Erzählungen Gruppen von Menschenseelen, die unter dem speziellen Einfluß eines Gottes stehen. Herakles wird also zum neuen Inspirator einer Anzahl von Menschenseelen oder eines Teils der Menschheit – eine Aussage von ungeheurer Tragweite: Als eingeweihter Repräsentant der spirituellen Zukunft der Menschheit wird er anstelle der Götter zu einem Leitstern der Menschenseelen.
Die Funktion des Wächters gehört zum Sternzeichen Wassermann, das unter anderem die abwehrenden, beschützenden, immunisierenden Kräfte enthält.
Kerberos und Gorgo – Die Schrecken der Seelenwelt und ihre Überwindung
Noch ein letztes Mal muß Herakles in die „Unterwelt“, in die Seelenwelt eindringen und sich dem schrecklichen Hund Kerberos stellen, der als Gehilfe der Hekate dasselbe Wächteramt ausübt wie der Hund Orthros. Aber auch das schlangenumwundene Haupt der Gorgo kann unseren Helden nicht mehr schrecken. Dieses Haupt läßt jeden unbefugten Eindringling vor Entsetzen zu Stein erstarren, füllt also ebenfalls die Funktion eines „Hüters der Schwelle“ aus.
Das Eindringen in die Seelenwelt unter mannigfachen Schrecken weist auf das vom Mars beherrschte Sternbild Skorpion hin, das die unbewußten und unheimlichen Tiefen der von wilden Trieben erfüllten Seele repräsentiert.
Die Welt der entkörperten Seelen – Der Mensch als Teil der Weltseele
Die Seelenwelt, die Herakles nun betritt, ist angefüllt mit den Seelen der „Verstorbenen“ und vielen anderen Spirituellen Wesen. Das Eindringen eines lebenden Menschen in die Sphäre der Entkörperten löste bei diesen ungeheures Erstaunen aus. Furcht packte sie angesichts seiner übermenschlichen Kräfte. Herakles begegnet hier auch den Helden der Vorzeit. Meleager berichtet ihm von seiner auf Erden vereinsamten Schwester Deianeira. Theseus und Peirithoos, die an einem Felsen festgewachsen sind, weil sie der Anmaßung gegen Persephone schuldig waren, strecken dem Helden flehend die Hände entgegen. Nach weiteren Begegnungen mit entkörperten Seelen gelangt Herakles schließlich zum Gott der Unterwelt selbst, zu Pluton. Dieser fordert ihn zum Kampf gegen Kerberos auf, den der Held siegreich besteht. Aufenthaltsrecht in der Spirituellen Welt erhält nur derjenige, den der „Hüter der Schwelle“ passieren läßt. Aus diesen Erzählungen wird deutlich, daß sich der Mensch das Leben in der Spirituellen Welt erkämpfen muß. Für die Spirituellen Wesen ist er vorerst ein nicht unbedingt erwünschter Eindringling, der in ihre Welt fremde Eigenschaften und Fähigkeiten einbringt, die nur auf Erden zu erwerben sind.
Die Seele, insofern sie Gefühle enthält, und die Seelenwelt als ganze haben im Kosmos eine Verwandtschaft mit dem Fische-Zeichen, welches der Seele auch die Möglichkeit der grenzenlosen Ausdehnung in den geistigen Kosmos verleiht.
Die Zeichen Wassermann und Fische sind die beiden letzten Abschnitte der jährlichen Sonnenbahn und repräsentieren deshalb folgerichtig auch die beiden letzten Stationen auf dem Einweihungsweg. Die zwölf Prüfungen des Herakles zeigen einerseits einen systematischen Aufstieg von der physischen Ebene über die vitale, seelische und mentale zur spirituellen Ebene. Andererseits führt, von zwei Ausnahmen abgesehen, der Weg von den Zeichen des Frühlings und Sommers (Widder, Stier, Zwillinge, Löwe, Jungfrau), die das äußere Leben beherrschen, zu den Zeichen des Herbstes und Winters (Waage, Skorpion, Schütze, Wassermann, Fische), welche der Verinnerlichung dienen. In dieser doppelten Systematik des Weges drückt sich ersichtlich eine höhere Gesetzmäßigkeit aus. Der Kosmos selbst weist den Weg.
Die zwölf Prüfungen entsprechen den zwölf Stationen der Sonne im Jahreslauf. Herakles wurde demgemäß seit alters her als der Sonnenheld aufgefaßt. Der Sonne entspricht das Ich im Menschen. So wie die Sonne die gegensätzlichen Kräfte des Sternenhimmels und der Planeten koordiniert und harmonisiert, so schafft das Ich das Gleichgewicht innerhalb der unterschiedlichen Seelenkräfte. Dabei handelt es sich nur um identische Vorgänge auf verschiedenen Ebenen. Die Prüfungen des Herakles repräsentieren den Entwicklungsweg des Ich, den Kampf des Ich um die Beherrschung der Seelenkräfte. Das ist der Weg der Sonne in der Ergänzung zum Weg des Mondes, der die Erweiterung und Erhebung des Bewußtseins ermöglicht. Die Botschaft von Eleusis lautet deshalb: Nur der Weg der Sonne führt den Menschen auf geordnete und gefahrlose Weise zum Reich des Mondes! Ohne die höhere Instanz des Ich läuft die Seele Gefahr, sich zu verlieren. Mit den zwölf Aufgaben des Herakles sind die vielen Tugenden, die sich der Mensch auf diesem Wege aneignen muß, allerdings nur angedeutet.
Die Schilderung des Einweihungsweges des Herakles ist in ihrer Art einmalig und einzigartig in der ganzen Welt. Geschaffen von erfahrenen Eingeweihten, die selbst diesen Weg gegangen waren, vermittelten diese symbolischen Erzählungen den Menschen des Altertums Erkenntnisse über die Bedingungen der Einweihung, die in den unbewußten Tiefen ihrer Seelen einen starken Widerhall fanden und sie selbst auf diesen Weg vorbereiteten. Zugleich dienten die Symbole als Vorbereitung für die Erfahrungen, welche die Seelen beim Eintritt in die Spirituelle Welt selbst machen würden, sie waren eine wichtige Wegzehrung auf diesem langen Wege. Einerseits waren die Umstände der Einweihung im Altertum strengstes Geheimnis, dessen Verrat mit dem Tode bestraft wurde. Andererseits bot die Gesamtheit der Geschehnisse um Herakles den Menschen einen erstaunlichen Einblick in das Wesen des Einweihungsweges und seiner Ziele. Das Eindringen in die Seelenwelt und der Aufstieg in kosmische Höhen waren deutlich ausgesprochen. Insofern war der Einweihungsweg für wache und denkende Menschen des Altertums wiederum ein „offenes Geheimnis“. Vielen der in Eleusis Eingeweihten war der Sinn der Erzählungen und die Bedeutung der Symbole bekannt. Selbst den heutigen Menschen bietet diese Symbolik, sofern sie richtig verstanden wird, wichtige Einsichten.
Die Erzählungen um Herakles vermittelten den Menschen des Altertums eine geradezu einzigartige Botschaft: Auch der anfänglich mit Fehlern und Sünden behaftete Mensch kann durch eigene Anstrengungen den Weg zum Geiste einschlagen und sich eine höhere, ja göttliche Existenzform erkämpfen. Herakles wurde ja nach Vollendung seines irdischen Lebens als Genosse der Götter selbst ein Gott. Auf Erden vollbrachte er noch viele andere Taten, die auf die Überwindung der wilden Triebe, des Verbrechens und des Bösen zielten. So stand er auch den Göttern in ihrem gewaltigen Kampf gegen ihre stärksten Feinde, die Giganten, bei.
Seine größte Tat war die Befreiung des an einen Felsen des Kaukasus geschmiedeten Prometheus. Herakles erlegt mit seinem Bogen den Adler, der stets aufs Neue an der Leber des Angeketteten frißt, so erzählt der eingeweihte Aischylos in seinem Prometheus-Drama. Prometheus hatte der Menschheit das Feuer und die Technik gebracht. Diese Kräfte fesseln die Menschheit aber an die Materie. Das Organ der Geistigkeit, die den Kräften des Jupiter zugehörige Leber, wird durch das geistige Verfallensein an den Materialismus aufgezehrt. Würde dieser Zustand andauern, so prophezeit Prometheus dem Himmelsherrscher Zeus, würde dessen Herrschaft enden und von einem ganz anderen Herrscher abgelöst werden. Gemeint war Typhon oder, unter anderen Namen, der Dunkle Herrscher der Erdentiefe, der Materie. Indem Herakles Prometheus befreit, erlöst er die ganze Menschheit von der Macht der Materie und des Materialismus. Wie man hieraus ersieht, hatten die eingeweihten Griechen bereits eine sehr klare Vorstellung von der Zukunft und ihren Bedrohungen. Für die Menschen des Altertums wurde Herakles im ganzen Mittelmeerkreise deshalb immer mehr der Erlöser und Retter der Menschheit schlechthin, der als Heiland (Soter) angerufen wurde. Die höchste, ewige Botschaft der Mysterien lautet deshalb: Der erleuchtete Mensch wirkt an der Befreiung und Erlösung der Erde und der Menschheit mit.